Die Fabrik perfekter Kinder Anfang 2008 ermittelte ich über jene Franzosen, die anlässlich des Todes des Vaters entdeckt hatten, dass ihr Vater ein bisher verschwiegenes Kind im zweiten Weltkrieg gehabt hatte, und manchmal dabei auf eine Halbschwester oder einen Halbruder gestoßen waren : Krieggefangene, Zwangsarbeiter, die einen ledig, andere schon Familienväter, die auf dem Hof oder in der Fabrik eine junge Frau kennengelernt hatten : nach dem Frieden waren sie heimgefahren und hatten weiter gelebt, als hätte es diese dunklen Jahre nie gegeben. Der Internationale Ermittlungsdienst des Roten Kreuzes stellte mir ein ganzes Archiv zur Verfügung, in dem die Kinder des Lebensborn standen. Diesem Thema wurden wenige Bücher gewidmet : bis 1970 wurde es als Gerücht betrachtet, und zwar bis zum Erscheinen des Buches von Georg Lilienthal 1985, und mehr noch nach Erscheinen als Taschenbuch 1994, erst dann wurde das Schweigen gebrochen. Lebensbornkinder sind Waisenkinder der Geschichte. 1945 in den Trümmern Europas wo etwa 50 Millionen Menschen vernichtet worden waren, waren sie ein vernachlässigbare Menge. Das Kriminelle an dem, was sie erlebt haben, ist den Alliierten gar nicht deutlich. Übrigens, vier unter den SS-Verantwortlichen der Organisation, die 1948 mit anderen hohen Nazis, die an der « Rassenfrage » beteiligt worden waren bei einem der zwölf großen Nürnberger Prozesse, wurden freigelassen. Sie haben das Gericht überzeugt, dass diese Entbindungsheime eine « Wohlfahrtstat » waren. So war es aber überhaupt nicht. Der Lebensborn war eine kriminelle Organisation. In den Augen der Spitzen der SS stellte sieein grundlegendes Problem dar : in ihren Augen war der Kampf gegen die « Feinde des Reiches », darunter insbesondere die totale Ausrottung der Juden, ja nur eine Etappe auf dem Weg zur Neuen Europäischen Ordnung. Ende 1943 spricht Himmler von der Judenfrage als von einem überholten Meilenstein. Zur gleichen Zeit planen seine Dienste die Eröffnung eines neuen Entbindungsheimes in Frankreich. Ich habe also Ermittlungen über die französischen und belgischen Lebensbornkinder aufgenommen. Sie sind besondere Zeitzeugen, stießen unaufhaltsam auf ein stilles Labyrinth : ledige Mütter, die sich schämten, Adoptiveltern, die keine Ahnung hatten, eine unflexible französische Verwaltung, ein deutsches Archiv, das zum Teil vernichtet oder schwer zugänglich war. Um die Spuren zu verwischen, waren die Familiennamen oft umgeändert worden. Ich zählte 46 Namen von Kindern, die entweder aus Lamorlaye, dem einzigen Lebensbornheim in Frankreich, im Norden von Paris, oder aus Wégimont, dem einzigen in Belgien kamen. Diese Liste ist unvollständig : ich bin fest überzeugt, dass 60 bis 70 Geburten stattfanden : maximal 23 in Lamorlaye, zwischen 40 und 50 in Belgien. Ich verfüge heute über eine Auflistung von 35 in Wégimont geborenen Kindern, die vom Standesamt der Gemeinde Ayeneux, wo sich Wégimont befand, nicht registriert worden waren. Das Entbindunsheim Wégimont. Im Sommer kommt der SS-Kommandant Walter Lang in Wégimont an, am Ende desselben Jahres übernimmt er die Leitung, nachdem die damalige Direktorin zurückgetreten war. Stellvertreter ist der Hauptmann Pletsch, ein Kriegsversehrter, der als Verwalter fungiert. Neben den beiden Offizieren arbeiten fünf oder sechs Büroangestellte (Frauen). Für die Sicherheit sorgt eine Abteilung der Waffen-SS. Über das Entbindungsheim herrst die Oberkrankenschwester Margerethe Petrowska. Ihr stehen acht Krankenschwestern bei, meist Belgierinnen. Die Hebamme Fanny Montulet wurde in Lüttich rekrutiert. Auch die Pflegebetreuerinnen sind belgisch. Etwa fünfzehn Frauen aus der Umgebung sind als Kôchinnen, Dienerinnen im Speiseraum, Haushaltsfrauen und Wäschefrauen angestellt. Höchstwahrscheinlich wurden die meisten requiriert. Die örtliche Bevölkerung weiß also von einem deutschen Entbindungsheim, weiß sie aber genau, was da passiert ? Höchstwahrscheinlich nicht, um so weniger, da es streng verboten ist, sich ohne gültigen Grund der Antstalt zu nähern. Die große Mehrheit der Frauen, die in Wégimont ein Kind zur Welt bringen kommen, sind Gefährtinnen belgischer SS. Das aufgezwungen Zusammenleben ist nicht einfach : den Frauen von SS-Offizieren gefällt es gar nicht, genauso behandelt zu werden wie 20jährige Mädel, die sich von einem einfachen Soldaten haben schwängern lassen. Der Tagesablauf besteht aus der Erlernung der Pflege, die sie den Neugeborenen angedeihen lassen müssen. Die jüngsten Mütter erhalten auch Hygiene- und Haushaltunterricht, darunter Kochunterricht. Ein- bis dreimal in der Woche gibt es abends ideologische Erziehung. Im Schloss folgt eine Geburt auf die andere. Die Vornamen der Jungen erinnern an die Helden der nordischen Kriegsepen, die der Mädchen Scham, Seriosität, Würde. Sie stehen im Zusammenhang mit einem von den SS-Führer ausgedachten Ritual : die Namenssegnung. Die Sexualmorale und die Verherrlichung der Heirat durch die Kirche sind ein Hindernis für das Programm der SS-Sekte. Bei schönem Wetter findet das Ritual im Innenhof des Schlosses statt, am Fuße der großen Treppe zum Hauptgebäude, das heute nicht mehr besteht : es wurde 1964 durch einen Brand zerstört. Vater Brabant, der Pfarrer von Soumagne, ist empört. Man vermutet, belgische Angestellten haben ihn über die « Heidenrituale » unterrichtet. Übrigens soll das örtliche Personal den Verantwortlichen der Anstalt immer größere Sorgen machen. Dazu kommt, dass es vor Ort keinen Vollzeitarzt gibt. Lang fragt sich – das erfährt man aus seinen Briefen – ob die Kinder sorgfältig betreut werden, eigentlich wegen der politischen Gesinnung des Feindes. Ein Kind, geboren im September 1943 bekommt einen virulenten Hausausschlag. Es wird deswegen ins Unikrankenhaus Lüttich, genannnt « Bavière » (als Bayern) eingeliefert, dann in ein Militärkrankenhaus in Brüssel. Es ist in so einem Zustand der Unterernährung, dass Lang überzeugt ist, dass « die belgischen Krankenschwestern absichtlich unsere Kinder absterben lassen ». Das Lütticher Krankenhaus steht ab dann unter diskreter Überwachung, auf Befehl des SS-Genralstabes in Brüssel. Am 3. Novembre, stirbt dann ein sieben Monate altes Kind : laut Autopsie wegen einer Gehirnzyste… oder Erstickung durch eine kriminelle Hand… ? Es war eines der wenigen Kinder, dessen Eltern Deutsche waren. Das gesamte belgische Personal wird entlassen und im Schloss von NS-Krankenschwestern ersetzt. Ende 1943 werden etwa zwanzig Kinder in Wegimont geboren. Am 1. Januar 1944 hat das Heim « Ardennen » genau noch achte Monate Bestehen vor sich : in dieser Zeitspanne kommen kaum mehr als zwangiz Kinder zur Welt. Da bricht in der Gegend eine für Neugeborene sehr gefährliche Diphterieepidemie aus : die Verantwortlichen des Heimes kommen kaum an die notwendigen Arzneien von der Militärverwaltung in Lüttich. Am 14. April kommt eine neue Sorge dazu : die Mücken. Verantwortlich sind die Wassergräben um das Schloss und die Teiche in der Nähe. Im Schloss herrscht ein totales Chaos, auch beim Personal. Hauptmann Pletsch wird mit Syphilis ins Krankenhaus eingeliefert : er hat Frau Franz, eine Tippistin, angesteckt. Auch eine belgische Küchenfrau hat den flämischen SS-Seargent mit der Krankheit angesteckt. Der Pfarrer von Soumagne schreibt in seinem Tagebuch : « Im Entbindungsheim geht es rund. Da herrscht totale Ausschweifung. Eine kleine flämische 17jährigen Dienerin hat ein anderthalbes Jahre altes Kind (…) Ein flämische Mädchen, das sich katholisch nennt, kam Anfang März 1944 zu mir und bat mich um Hilfe, weil sie überzeugt war, dass ihr Kind, das in einem Krankenhaus in Brüssel lag und sie nicht sehen durfte, Opfer eines Zauberspruchs war. Am 7. Septembre 1944 dringt die 3. US-Panzrdivision in die Stadt Lüttich ein. Sechs Tage zuvor hat Lang das Heim in aller Eile evakuieren lassen. Bei dieser Flucht hat er eine wertvolle Ladung mitgenommen : die Kinder. Das einzige Zeugnis aus dieser Zeit verdanken wir der Mariette Bodeux, einer der Angestellten, die in der Mensa dienten. Als ich ihr begegne, ist sie 88 Jahre alt und, wie sie selber sagt, « das Gedächtnis läuft weg ». Sie berichtet, dass die Deutschen an diesem Tag in alle möglichen Richtungen rannten. Jeder war überrascht, denn man hatte ihre Absichten gar nicht bemerkt. Sie fuhren gegen Mittag weg, ohne gegessen haben. Sie ließen die Kinder in einen großen Bus einsteigen : die Mütter standen am Tor und weinten, sie hatten nämlich nicht das Recht, mitzufahren. Daran haben die Deutschen sie gehindert. » Es stellt sich doch heraus, dass vier oder fünf Mütter in die Fahrzeuge zugelassen wurden, denn im Archiv in Wiesbaden wird ihre Anwesenheit erwähnt. Als sich die Amerikanier im Schloss einquartierten und dort ihr provisorisches Hauptquartier installierten, waren sie von den Erzählungen der Einwohner von Soumagne wie erschlagen. Den Ort nannten sie « baby factory ». Letztendlich gelangte der Konvoi nach Steinhöring, ein kleines Dorf etwa 40 Kilometer östlich voin München, wo das allererste Lebensbornheim errichtet worden war, genannt Hochland, wo vielleicht 3000 Kinder geboren wurden, immerhin mindestens 1438 laut Standesamt der Gemeine Steinhöring. Am 3. Mai nehmen die Panzer der 3. Amerikanischen Armee Stellung um dieses Gebäude : wiederum sind sie verwundert, in diesem großen Gebäude auf eine ganze Menge Kinder, im Alter von ein Paar Wochen bis zu vier Jahren zu stoßen, außerdem noch auf einige Mütter und eine Handvoll Krankenschwestern : die amerikanischen Dienste rezensieren da die Identität von etwa 162 Kindern. Alle haben deutsche Väter oder deutsche Mütter, sind selbstredend germanischer Abstammung, also « Volksdeutsche ». Auf dieser Liste findet man auch die Namen von sieben Kindern, von denen festgestellt werden konnte, dass sie in Wegimont geboren waren. Die Vereinten Nationen, genauer gesagt die Freiwilligen der Mannschaft 182 der Verwaltung der Vereinten Nationen für Hilf und Wiederaufbau nehmen diese Kinder also in Empfang, versorgen sie und bemühen sich, eine ganze Schar verwirrter Kinder zu identifizieren. Bei zwölf gelingt es, sie als Belgier anzuerkennen : alle sind in Wégimont geboren : Walter Beausert, Songard B., Heidrun de B., Alfred L., Gisela Magula, Willy O., Hans Georg T., Rita A., Hans-Dieter B., Frank C., Anika B und Hans-Georg P. Fast alle Kinder mit einem französischsprachigen (Vor)namen oder diejenigen, die auf die französische Sprache reagierten, wurden, manchmal zu Unrecht, als französische Einheimische deklariert. Die wenigen zusammengestellten Informationen leitete die Mannschaft 182 den französischen Besatzungsbehörden in Deutschland weiter : Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Eltern zu finden. Es ist technisch unmöglich, ganz besonders unter den Umständen dieser Zeit, und der Versuch scheitert auch. Übrigens wissen die französischen Dienste nichts vom Bestehen Wégimonts und des Heims Ardennen. Sie haben aber doch den Bürgermeister der Gemeinde Deycimont angeschrieben, einer kleinen Gemeinde im Jura, erste Monate später wird man der Verwirrung mit Wégimont gewahr. Die Kinder aus Lamorlaye und Wegimont werden also nach Commercy geschickt, ins Departement der Maas. Weshalb denn ? Dieses Departement antwortete als erstes auf den Aufruf des Ministeriums für öffentliche Gesundheit und Bevölkeung im Mai 1946 : der Präfekt gab sehr schnell bekannt, dass sein Departement bereit war, im Waisenheim Commercy etwa 50 Kinder aufzunehmen. Deswegen wurde für die Kinder, die von unbekannten Eltern geboren waren, , Geburtsurkunden in Bar-le-Duc, im selben Departement, hergestellt, die alle mit dem 29. April 1947 datiert waren. So wurden sie französische Staatsbürger. Die Vornamen mit germanischem Ausklang wurden entweder verfranzösischt oder ersetzt, mit einer besseren Einbürgerung als Ziel. Die meisten Kinder von Wégimont und Lamorlaye unternahmen Forschungen über ihre Herkunft erst Jahrzehnte später, als zum Beispiel die Adoptiveltern starben. Manchmal erregte das unerwartete Reaktionen : sie waren gespalten zwischen dem Willen, ihr Eltern zu kennen und der Furcht zu entdecken, dass es um einen ehemaligen SS, Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit ging, und dem Bewußtsein, ein Opfer des Krieges zu sein sowie der Scham, im Dienst einer ekelhaften Ideologie erzogen worden zu sein. Heutzutage sind die Lebensbornkinder eine der wenigen Kategorien von Opfern des Zweiten Weltkriegs, deren Leiden von Deutschland nicht anerkannt wurde. 2012 gelang es mir mit Hilfe von Iris Apé – einer Deutschen, die ihre frazösische Halbschwester wiederfand, diese war eben in Wégimont geboren – 467 Sparkassenbücher zu entdecken, die der Lebensborn für eine Reihe « seiner » Kinder eröffnet hatte. Davon wußten nur einige Spezialisten : die Zinsen hatten sich inzwischen angehäuft und zwar bis 1978, dann wurden die Konten geschlossen. Einige hatten aber doch Zugang dazu. Im November 2012 wohnte ich der Jahresversammlung von « Lebensspuren » bei, der einzigen deutschen Vereinigung von Lebensbornkindern. Den Eigentümern konnten wir Faksimiles aushändigen. Die Betroffenen hatten davon nie eine Ahnung gehabt. |