Er war
Pfadfinder, studierte Medizin und starb als
katholischer Widerstandskämpfer im Gefängnis. Die
Nationalsozialisten enthaupteten in Dortmund nicht
nur den Pfarrer Pierre Carpentier.
Elf Monate lang
wartete der französische Priester Pierre
Carpentier im Bochumer Gefängnis „Krümmede“ auf
ein Urteil. Vor über 75 Jahren, im Juni 1943,
wurde es in Dortmund vollstreckt:
Nationalsozialisten enthaupteten den
Widerstandskämpfer und weitere angebliche
Straftäter im Minutentakt.
„Die Vorwürfe
lauteten Feindbegünstigung, Spionage,
deutschfeindliche Aussagen, Arbeiten für die
Untergrundpresse und das Verstecken
Untergetauchter“, berichtet der Bochumer
Gefängnis-Seelsorger Alfons Zimmer. Er hat zum
Schicksal der in Bochum inhaftierten und in
Dortmund ermordeten Nazi-Gegner recherchiert. Mit
ihm stehen an einem Sonntagnachmittag (28.10.2018)
50 Bürgerinnen und Bürger vor einer Mauer des
Dortmunder Gefängnisses - im Nationalsozialismus
eine „zentrale Richtstätte“ des Deutschen Reiches.
Über 300 wurden hier getötet. Heute erinnert eine
Gedenktafel an die Opfer der Gewaltherrschaft.
Einige von ihnen
halten Plakate mit Schwarzweißfotos, Namen und
kurzen Texten hoch. Gesichter, Frisuren und
Brillen lassen erkennen, dass die Portraits aus
der Vergangenheit stammen. Sie zeigen
Widerstandskämpfer, die von den
Nationalsozialisten ab 1943 im Dortmunder
Gerichtsgefängnis skrupellos enthauptet worden
sind. „Im Minutentakt“, wie Alfons Zimmer
berichtet. Für den Nazi-Staatsanwalt hatte das
Morden ab dem Sommer 1943 in Dortmund einen
logistischen Vorteil: Für die Vollstreckung der
Todesurteile mit der Guillotine musste der Jurist
nicht mehr nach Köln fahren.
An das Schicksal
des französischen Priesters Pierre Carpentier und
den gewaltsamen Tod vieler anderer
Widerstandskämpfer erinnern auch die 22 für drei
Tage eigens aus Abbeville in Frankreich
angereisten Pfadfinder und die Dortmunder
Pfadfinderschaft Sankt Georg. Die Initiative dafür
hatte der frühere Pastor der Baroper Gemeinde St.
Franzskus Xaverius, Wilfried Göddeke, ergriffen.
Seit Jahrzehnten schon engagiert er sich in der
katholischen Jugendarbeit für die
deutsch-französische Völkerverständigung. Er ist
mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.
„Die meisten Leute
glauben: Die Sache ist gelaufen, die Versöhnung
hat stattgefunden und jetzt kann jeder gemütlich
für sich weitermachen - aber das ist eine ganz
schwere Täuschung. Denn Frieden und Versöhnung
sind kein Besitz, den man in die Tasche stecken
kann. Man muss ständig dafür weiterkämpfen“, sagte
Wilfried Göddeke nach der Gedenkstunde auf der
Lübecker Straße. Die politische Lage in
Deutschland sei allerdings beunruhigend.
Was Deutschland und
Frankreich verbindet
„Ich bin ein
Pfadfinder aus Abbeville“, sagt der junge
Dortmund-Besucher Baptiste Chapotard auf der
Lübecker Straße. Der Mann, an dessen Schicksal
auch Baptiste erinnert, beeindrucke ihn sehr: „Abbé
Pierre Carpentier war sehr mutig.“ Der Zweite
Weltkrieg sei sehr schwer für die Menschen in
Frankreich und Deutschland gewesen. Mit seinem Mut
und seinen Botschaften könne Pierre Carpentier
beide Länder gut miteinander verbinden.
Sorgfältig wählt
auch ein junger Dortmunder seine Worte: „Die
Erinnerung ist wichtig, weil geschriebene Quellen
für die nachfolgenden Generationen schwer zu
greifen sind. Deshalb versuchen wir die
Erinnerungen von Zeitzeugen wachzuhalten und ihre
Erlebnisse zu bewahren. Uns trifft keine Schuld,
aber wir müssen dafür sorgen, dass so etwas wie
die Gräueltaten der Nationalsozialisten nie wieder
passiert“, begründet Fabian Karstens als „Botschafter
der Erinnerung“ seine Teilnahme. In Dortmund gibt
es inzwischen über 200 junge Botschafter der
Erinnerung, die in Schulen aktiv waren oder an
Gedenkveranstaltungen mitgewirkt haben.
„Bei einer aktiven
Nazi-Szene, die sich ganz bewusst auf den
historischen Nationalsozialismus beruft, ist es
wichtig, auf die Konsequenzen
nationalsozialistischen Denkens hinzuweisen.
Gerade die Verbrechen in den letzten Kriegsjahren
zeigen, wie barbarisch und wie unmenschlich das
System war“, sagt Andreas Roshol vom Jugendring
Dortmund.
Der Jugendring
bildet die Botschafter der Erinnerung aus. Die
1946 gegründete Organisation war nach dem Krieg
ein deutlicher Gegenentwurf zur Hitler-Jugend.
Junge Dortmunder sollten ihre Wünsche mit
demokratischen Mitteln umsetzen können und nicht
einem Führer folgen.
Der Jugendring
arbeitet auch heute intensiv auf vielen Ebenen,
aber vielfach im Stillen. Erinnerungsarbeit kommt
ohne Geschrei und Parolen aus. Wie an diesem
kalten Sonntagnachmittag vor dem Gefängnis. Die
Worte sind gut überlegt. Die Sprache kommt ohne
Befehlsform aus.
„Habt Mut und steht
auf“, lautet dabei ein Appell von Pfarrer Ansgar
Schocke aus der Nordstadt. Die Nazi-Szene in
Dortmund sorge immer wieder für Aufruhr. „Wir
Dortmunder müssen diesen Menschen entgegentreten.
Gerade wir als Kirche haben diesen Auftrag.
Menschen, die mit ihrem Leben für ihre Überzeugung
eingetreten sind, dürfen wir niemals vergessen“
sagt er mit Blick auf die Schwarzweißfotos von den
Gesichtern auf den Plakaten.
Der französische
Priester Pierre Carpentier starb im Alter von nur
31 Jahren einen Tag nach seinem Todesurteil. Über
Jahrzehnte blieb sein Schicksal in Dortmund
verborgen. Wie so viele Schicksale in der Stadt.
Der Bochumer Gefängnis-Seelsorger Alfons Zimmer
recherchierte in der Vergangenheit. Doch keine
Zeitung, auch nicht die Kirchenpresse, hatte je
über den Priester und Pfadfinderführer berichtet.
Die Franzosen verehren den mutigen Katholiken in
ihrer Heimat. In Deutschland ist dessen Geschichte
weitgehend unbekannt. Als Pfadfinder schloss er
sich der Résistance gegen Hitler-Deutschland an.
Pierre Carpentier „half dabei, alliierte
Fallschirmspringer und Piloten außer Landes zu
bringen. Die große Widerstandsgruppe wurde
verraten“, berichtet Alfons Zimmer.
1942 von der Gestapo
festgenommen
1941 nahm die
Geheime Staatspolizei den Widerstandskämpfer fest.
Pierre Carpentier war einer von vielen sogenannten
„Nacht- und Nebelgefangenen“ aus Frankreich und
Beneluxländern. Die Nacht- und Nebelgefangenen
sollten überraschend und lautlos verschwinden.
Diese Festnahme-Taktik sollte andere
Widerstandskämpfer einschüchtern.
Es folgten Folter
und die Deportation über Lille und Brüssel nach
Bochum, wo Carpentier im Sommer 1942 einer von
vielen Widerstandskämpfern war. Gegen alle Verbote
feierte Pierre Carpentier in seiner Gefängniszelle
die Heilige Messe. Auf den Fluren spendete er
gläubigen Gefangenen heimlich die Kommunion. Elf
Monate nach der Inhaftierung in Bochum nahm der
Franzose mit der Gefangenen-Nummer 789/42 sein
Todesurteil entgegen. Am 30. Juni 1943 starb er
unter dem Fallbeil im „Lübecker Hof“ in der
Innenstadt von Dortmund. Alfons Zimmer: „In seiner
Heimatstadt Abbeville ist ein Platz nach ihm
benannt. Gedenkstelen erinnern an ihn.
Pfadfinder-Gruppen tragen seinen Namen.“
Dortmunder
Pfadfinder erinnern nun an dem Ort an den
Priester, wo er von den Nationalsozialisten
ermordet wurde. Alfons Zimmer: „Sein Markenzeichen
war ein Lächeln.“
Der
Dortmunder Jugendring ist 1946 gegründet
worden und war ein Gegenentwurf zur „einheitlichen
Jugend“, wie sie die Nationalsozialisten mit
der Hitler-Jugend heranziehen wollten. Die
Jugendverbände haben sich nach dem Zweiten
Weltkrieg zusammengeschlossen, damit junge
Menschen ihre Ideen demokratisch umsetzen
konnten.