Im Februar 1943 bin ich als nichteheliches Kind im Lebensborn-Heim „Wienerwald“ in Pernitz/Österreich geboren. Das habe ich aber erst 1974 im Alter von 31 Jahren erfahren. Wo ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe, weiß ich nur bruchstückhaft. Wahrscheinlich habe ich von 1945 bis 1948 bei meiner Großmutter in Zahna bei Wittenberg gelebt. Im Spätsommer 1948, als ich ca. fünfeinhalb Jahre alt war, brachte mich mein Onkel zu meiner Mutter nach Hannover, die zu dieser Zeit bei englischen Offizieren gearbeitet und gewohnt hat. Zu diesem Zeitpunkt setzt meine erste Erinnerung ein: Eingangsbereich einer Villa, eine Frau kommt die Treppe herunter, bleibt auf dem Treppenabsatz stehen und sagt: „Astrid, komm!" Ich aber klammere mich am Bein meines Onkels fest und gehe ihr nicht entgegen, geschweige denn, dass ich ihr entgegenlaufe. Daraus schließe ich, dass ich diese Frau, die meine Mutter war, nicht kannte oder erkannte. Von da an habe ich bei ihr gewohnt. Bald darauf lernte ich Onkel Werner kennen und im Dezember 1948 zogen wir mit ihm in ein Zimmer, das wir als Untermieter zugewiesen bekamen. Onkel Werner sollte nun mein „Papi" sein und ich freute mich auf eine Hochzeit. Aber meine Mutter sagte, dass ich niemandem davon erzählen dürfe, sonst würden die Leute denken, dass wir sie zu diesem Fest einladen würden, und dazu hätten wir kein Geld. Heute denke ich, dass es keiner wissen sollte, dass ich nicht das leibliche Kind dieses Vaters bin. So fing die Lügerei an; denn es gab damals noch keine Freunde und Bekannte. Wir waren Flüchtlinge und fremd in Hannover. Obwohl wir auf ganz engem Raum (3 Personen in einem Zimmer!) lebten, kann die Beziehung zwischen meinen Eltern und mir nicht in Ordnung gewesen sein. So fuhren wir z. B. Weihnachten 1948 zu den Eltern meines Stiefvaters, wo ich einen Schlitten geschenkt bekam. Bei der Rückreise hielt mich mein Stiefvater an der Hand, die ich im Gedränge aber für einen Augenblick verlor. Als mich dann wieder ein Mann anfasste, war ich mir nicht sicher, ob ich noch neben den Leuten lief, zu denen ich gehörte. Viele Männer trugen damals karierte Mäntel und einige auch einen Schlitten auf dem Rücken. Dann habe ich ganz klar überlegt: Wenn es die sind, zu denen ich gehöre, müssten sie wissen, wie ich heiße, wenn nicht, müssten sie nach meinem Namen fragen. Erst später ist mir dieses Erlebnis bewusst geworden: Ich war fast sechs Jahre alt und mir war nicht klar, zu wem ich gehörte! 1949 bekam ich den Nachnamen meines Stiefvaters. Ich wurde nicht adoptiert, sondern einbenannt. Als ich neun Jahre alt war, war ich in einem Kinderkurheim in Braunlage. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt. Als wir Kinder wieder mit dem Bus in Hannover ankamen, sind alle aus dem Bus in die Arme ihrer Angehörigen gesprungen. Nur ich bin sitzen geblieben und meine Mutter kam mit den Worten „Astrid, nun komm!“ in den Bus. Ich aber dachte, dass der Bus wieder nach Braunlage führe, und sagte: „Nein, Mami, ich bleib‘ sitzen, ich fahr wieder mit zurück!“ Ich wollte also lieber im Heim sein als zu Hause! Durch den Aufenthalt in Braunlage ist auch mein Berufswunsch entstanden. Ich wollte Kindergärtnerin werden und in einem Heim arbeiten. Meine Mutter wollte es nicht. Ich sollte Drogistin werden und musste auch eine Drogistinnenlehre beginnen. Aber der Wunsch war so stark, dass ich mich zum ersten Mal durchgesetzt habe und nach einem halben Jahr die Lehre abbrechen durfte. Heute weiß ich, dass ich im Kinderkurheim gefunden habe, wonach ich mich sehnte, nämlich geborgen und angenommen zu sein , und das wollte ich für mich wieder haben. Die ersten Jahre nach meiner Ausbildung habe ich in einem Kinderheim gearbeitet und später eine Kindertagesstätte geleitet. Meinen Beruf habe ich stets als Berufung erlebt. Als ich 12 Jahre alt war, wurde ich vom Roten Kreuz „verschickt“. Ich durfte 3 Monate bei einer Familie in der Schweiz sein. Es war eine wunderschöne Zeit für mich. Ich kam mir vor wie im Paradies! Eigentlich lebte ich in zwei Familien: bei meinen Gasteltern und der Schwester und dem Schwager meiner Gastmutter. Die eigenen Kinder lebten schon selbständig und somit genoss ich die Liebe und Aufmerksamkeit von vier Erwachsenen! Ich habe dort Dinge und Situationen erlebt, die ich noch nie erlebt hatte. Wir gingen z. B. in ein Restaurant und i c h konnte mir aussuchen, was ich essen wollte. Noch nie war ich vorher in einem Restaurant! Meine Gastmutter, die ehrenamtlich für das Schweizer Rote Kreuz tätig war, bemühte sich, den Kindertransport nach Hannover zu begleiten. Mir hat sie gesagt, dass sie meine Familie kennen lernen wollte. Als ich etwa 40 Jahre alt war, hat mir meine Mutter erzählt, dass meine Gastmutter ernsthaft darum gebeten hatte, mich als Pflegekind wieder mit in die Schweiz zu nehmen. Meine Mutter hat sich - aus Angst, dass ich JA sagen würde - nicht getraut mich zu fragen. Ich weiß genau, dass ich JA gesagt hätte und sofort wieder mitgefahren wäre. Als ich 14 Jahre alt war, verbrachte ich noch einmal ein halbes Jahr in der Schweiz. Meine Gasteltern haben mich abgeholt und auch wieder nach Hannover gebracht. In der Schweiz lebten meine Wunscheltern! Als ich meinen Mann kennenlernte, erzählte ich ihm viel von meinen Erinnerungen an die schöne Zeit in der Schweiz. Er glaubte, dass ich fast meine ganze Kindheit dort verbracht hätte, und konnte es gar nicht glauben, dass es nur ein Dreivierteljahr meines ganzen Lebens war. Ich hatte all die Jahre Kontakt zu meinen Gasteltern und somit war es auch mein großer Wunsch, dass unsere kirchliche Trauung in der Schweiz stattfand. Es war für mich ein wunderschöner Tag - ohne Herkunftsfamilie - aber mit beiden Gastfamilieneltern! Gern wäre ich ihr Kind gewesen. Leider sind alle vier Erwachsenen inzwischen gestorben, aber ab und zu „zieht“ es mich noch heute an die schönen Orte meiner dort verlebten Kindheit. Die Atmosphäre in unserer Familie war nicht liebevoll. In der Ehe meiner Eltern, die sich später scheiden ließen, wurden zwei Mädchen geboren. Meine Mutter hat es immer verstanden, einen Keil zwischen uns zu schieben. Zwei Töchter hatte sie jeweils auf ihrer Seite, die dritte Tochter stand aussen vor. Das wechselte von Zeit zu Zeit. Es ist erschreckend, wie lange wir Töchter unserer Mutter immer wieder geglaubt und nichts hinterfragt haben. Ein typisches Beispiel für ihr intrigantes Verhalten ist uns Schwestern z. B. erst vor Kurzem, lange nach ihrem Tod (1995) bewusst geworden: 1974 brach meine mittlere Schwester ganz plötzlich den Kontakt zu mir ab. Sie lebte wie auch meine übrige Familie in Hannover. Ihr ca. 5 Jahre alter Sohn hatte bis dahin oftmals, auch schon als Säugling, mehrere Wochen im Jahr bei mir in Köln verbracht und ich liebte ihn heiß und innig. Von heute auf morgen sah und hörte ich nun nichts mehr von ihm, seine Mutter antwortete nicht auf meine Briefe und ich litt sehr unter der Situation. Als wir uns nach ca. vier Jahren aus Anlass der Hochzeit unserer jüngsten Schwester zum ersten Mal wiedersahen, kehrten wir nach alter „Familientradition“ das Problem unter den Teppich, sprachen nicht darüber und hatten wieder, wenn nur auch losen Kontakt. Vor einiger Zeit (2011!) erzählte ich in einem anderen Zusammenhang meiner Schwester, wie ich damals unter dem Abbruch des Kontaktes gelitten hätte und dass mir immer noch nicht klar sei, warum es geschehen sei. Da fragte meine Schwester ganz erstaunt: „Das weißt Du nicht?“ Als ich die Frage verneinte, nannte sie den Grund: Zur fraglichen Zeit ging es ihr finanziell nicht gut und sie hatte oftmals Probleme, ihren Sohn versorgt zu wissen. Da hat unsere Mutter ihr gesagt, dass ich ihr 10.000 DM geben würde und im Gegenzug dafür ihren Sohn für immer haben wolle. Meine Schwester war entsetzt („Ich verkaufe doch nicht mein Kind!“) und zog ein hohe Mauer zwischen uns. Ich war über das Gehörte erschüttert; denn nie habe ich solch ein Gespräch mit meiner Mutter geführt, geschweige denn solche Gedanken gehabt! 1990 bekam sie einen Schlaganfall, wir Schwestern kamen hinter ihre „Machenschaften“ und entzogen ihr ihre Macht über uns. Seitdem haben wir ein sehr gutes Verhältnis untereinander. Mein Stiefvater war gut zu mir, aber er durfte nur nach außen hin mein Vater sein. Innerhalb der Familie hatte meine Mutter über mich die alleinige Macht. Schon immer hatte ich das Gefühl, dass mit mir vieles nicht stimmte. Wer mein leiblicher Vater war, wußte ich nicht. Ich wußte nur, dass er gefallen war, hatte aber keine Vorstellung davon. Ich dachte mir: gefallen - hingefallen - tot - komisch. Als Kind dachte ich auch ganz „logisch“: In Polen geboren, also war der Vater Pole. Als wir in der Schule einen Lebenslauf schreiben mussten und ich nicht wusste, wie ich beginnen sollte, schrieb meine Mutter mir einen verworrenen Anfang. Ich stieg nicht durch und mein Vater hatte einen deutschen Namen. Ich war verwirrt, aber traute mich nicht zu fragen. Später, ich war etwa siebzehn Jahre alt, bekam ich ein Foto von meiner Mutter mit den Worten: „Das schenke ich dir. Das ist dein Vater.“ Ich fragte wieder nicht, aber der Name hatte nun ein Gesicht. In mir waren viele Fragen, aber ich traute mich nicht, sie zu stellen. Die nächste Konfrontation mit dem Thema Vater gab es, als ich 24 Jahre alt und berufstätig war. Ich wohnte mit einer Freundin zusammen in Köln und meine Mutter hatte ihren Besuch angekündigt. Ein paar Tage vor dem angekündigten Besuch kam mein Freundin von der Arbeit und erzählte mir schuldbewusst: „Deine Mutter hat mich angerufen, ich darf dir nichts davon erzählen, kann es aber nicht für mich behalten: Deine Mutter hat Kontakt zur Familie deines Vaters aufgenommen und will, wenn sie bei uns ist, mit uns nach Bad Kreuznach zu dieser Familie fahren. Sag bloß nicht, dass ich es dir schon erzählt habe!“ Mir wurde ganz mulmig! Am Samstag klingelte es bei mir und ich glaubte, dass es meine Mutter wäre. Aber es war eine mir fremde Familie, die die Treppe hoch kam. Falsch geklingelt, dachte ich nur. Aber der Mann sagte zu mir: „Guten Tag, Astrid, ich bin der Onkel Walter“, und stellte mir seine Frau und seine zwei Söhne vor. Ich war total überfordert, denn der Onkel setzte bei mir Familienkenntnisse voraus und erzählte und erzählte ... Ich war in Schweiß gebadet und spielte meine Rolle als liebes, freundliches Mädchen. Als meine Mutter dann kam, fiel sie Onkel Walter jubelnd um den Hals. Mich hat sie nie gefragt, wie ich mich in dieser Situation gefühlt habe. Den Kontakt zum Onkel Walter brach ich zum Ärger meiner Mutter bald darauf ab. 1974 wollten mein Mann und ich heiraten. Ich hatte weder eine Geburtsurkunde noch eine Taufbescheinigung. Das Standesamt Lodz hatte keine Eintragung über meine Geburt und auch die Standesämter Berlin/West und -Ost hatten keine Unterlagen. Nach einer von mir abgegebenen eidesstattlichen Erklärung konnten wir standesamtlich heiraten. Für die kirchliche Trauung unterschrieb meine Mutter eine eidesstattliche Erklärung, meine Taufe betreffend. Im Mai fand in Köln die standesamtliche und im August in der Schweiz die kirchliche Trauung statt. Als ich Onkel Walter eine Heiratsanzeige schickte, kam er sofort nach Köln, um uns zu gratulieren, obwohl ich vorher den Kontakt abgebrochen hatte. Inzwischen war ich der Sache gewachsen und konnte mit ihm über den ersten Besuch sprechen. Ich hatte meine Rolle damals erstklassig gespielt, denn weder er noch seine Frau hatten meine Unwissenheit gespürt. Wir sprachen über die aufregende Zeit vor der Hochzeit – Heiraten ohne Papiere usw. ... Plötzlich sagte mein Onkel: „Du bist doch nicht getauft worden! Vielleicht später in Hannover. Aber nicht in Lodz!" Er erklärte es weiter: Lodz im Warthegau, dem Mustergau Hitlers, Mutter bei der Gestapo und beim SD und und und. Mein Mann und ich lasen in Geschichtsbüchern nach und der Verdacht erhärtete sich. Dann fuhren wir nach Hannover und ich fragte meine Mutter. Es war ein hartes Gespräch. Ein Gespräch voller Widersprüche: U. a. erzählte meine Mutter von 3 verschiedenen Taufen. Von meinem Onkel hatte ich eine Heimkostenabrechnung, aus der hervorging, dass für mich vom 17.2. bis 25.8.1943 Heimkosten entstanden waren. Als ich danach fragte, bestritt sie, dass ich im Heim gewesen sei, sie hätte mich nie allein gelassen, selbst als ich mit 5 Wochen nach Wien ins Krankenhaus gemusst hätte, sei sie bei mir gewesen. Ich zweifelte das an: 1943, im Krieg, von Lodz nach Wien mit einem 5 Wochen alten Säugling - und Lodz war doch auch eine große Stadt mit Krankenhäusern usw. Da sagte sie beiläufig: „Du bist doch nicht in Lodz geboren, sondern bei Wien." Dieser Satz zog mir den Boden unter den Füßen weg. 31 Jahre lang war ich der Meinung, in Lodz geboren zu sein, in allen Dokumenten war als Geburtsort Lodz angegeben und jetzt: bei Wien! Ich kann es bis heute nicht fassen: Die Frau - meine Mutter - lässt mich nach Lodz schreiben und um eine Geburtsurkunde bitten und ist dann ganz erstaunt, dass mir mitgeteilt wurde, dass dort keine Eintragung über meine Geburt vorhanden sei! Nun glaubte ich meiner Mutter gar nichts mehr. Ich setzte mich wieder mit meinem Onkel in Verbindung und er schickte mir, was er an Unterlagen hatte. Ich wurde ganz aktiv und schrieb verschiedene Behörden an. Vom Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen bekam ich einige mich betreffende Schriftstücke als Kopien: Demnach bin ich im Lebensborn-Heim „Wienerwald" bei Pernitz in Österreich geboren, war tatsächlich in Wien – wegen „Nasendiphterie" - im Krankenhaus und auch meine Mutter war dort, weil sie eine Bazillenausscheiderin war. Ich besitze die Kopie eines Schreibens von Dr. Schwab, dem Leiter des Heimes „Wienerwald" an die Zentrale des Lebensborn in München vom 16.4.1943. Darin beschwert sich Dr. Schwab über meine Mutter, die „durch Schwätzereien erhebliche Unruhe unter den Müttern verursacht ...“ Sie erzählte nämlich von ihrer Tätigkeit bei der Gestapo in Smolensk und „gab ausführliche Berichte von Massenhinrichtungen von Juden, wobei auch Säuglinge durch Genickschuss getötet sein sollen ...“ In dem Schreiben steht weiter, dass Dr. Schwab sie energisch zur Rede gestellt habe, da derartige Schilderungen sicher nicht in den Rahmen eines Entbindungsheimes gehörten. (Diese Aussage fand ich ganz erschreckend.) Außerdem beschwerte sich meine Mutter über das Essen im Heim, war auch sonst aufmüpfig und verweigerte einen Nasenabstrich, obwohl Mutter und Kind noch als Bazillenträger wegen Platzmangel vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Wegen ihrer ständigen Meckereien hatte Dr. Schwab schon mit der Zentrale in München telefoniert und von dort wurde fernmündlch angeordnet, dass meine Mutter zusammen mit mir fristlos zu entlassen sei. Zu ihrer Herkunftsfamilie konnte sie mich als Diphteriebazillenträger nicht bringen, da dort schon ein anderer Säugling lebte. (Diese Familie wußte übrigens auch nichts von meiner Geburt.) Meine Mutter gab im Heim an, mich in absehbarer Zeit zu einem Höheren SS-Führer in Pflege geben zu können. Laut Kopie der Abmeldung verließ meine Mutter am 20. April 1943 das Heim. Mich hat sie dort zurück gelassen und nach vier Monaten am 25. August 1943 abgeholt. Wo war ich dann? In der Familie des Höheren SS-Führers? Bei meiner Mutter? Wenn ja, wer war dann bei mir, denn sie musste ja arbeiten? Von meinem Vater weiß ich, dass er im Dezember 1922 geboren ist, bei der Luftwaffe war, die Vaterschaft am 24.3.1943 anerkannt hat, seit dem 29. Mai 1943 als vermisst galt und im April 1950 für tot erklärt wurde. Er hat die Napola in Schulpforta besucht und aus den Unterlagen, die ich über ihn habe, schließe ich, dass seinerseits keine Heiratsabsicht bestand. Ich habe mit meiner Mutter viele harte Gespräche geführt. Bei diesen Zusammenkünften habe ich mal wütend und mal traurig Verletzungen angesprochen. Manchmal habe ich auch bitterlich geweint. Sie saß mir gegenüber, ließ keine Regung erkennen und schwieg. Der einzige Satz, der kam, war vorwurfsvoll: „Du hast doch nicht gefragt!“ Sie hielt an ihrem Lügengebäude fest. Oft holte ich auch Entwicklungsphasen nach: Manchmal war ich meiner Mutter gegenüber wie ein Kind in der Trotzphase oder ich benahm mich wie ein pubertierendes Mädchen. Es tat mir aber gut, meine Mutter entsetzt zu sehen. Ich war nicht mehr das angepasste Kind. Einen Ausspruch von ihr: „Du bist gar nicht mehr du selbst!", habe ich mit Freude mit „Endlich werde ich ich selbst!" beantwortet. Immer habe ich mir gewünscht, sie würde einmal sagen: „Komm, jetzt erzähle ich dir mal alles – genau, wie es war ...“ Aber das kam nie. Alles war immer widersprüchlich und, was ich an Unterlagen bekam, bestritt sie oder kommentierte es mit den Worten: „So war es gar nicht." Aber wie war es dann? Inzwischen weiß ich, dass von meinen persönlichen Angaben nur noch mein Geburtsdatum stimmt. Vorname, Geburtsname und Geburtsort stimmen nicht. Irgendwann habe ich dann den Kontakt zu ihr abgebrochen, denn für mich hatte sie ihr Muttersein verwirkt. Meine Mutter hat bei der Gestapo und beim Sicherheitsdienst gearbeitet, wie sie gesagt hat, als Telefonistin und Fernschreiberin - aber auch das fällt mir schwer zu glauben. Die Frage „Was hat sie wirklich gemacht?“ treibt mich um, ich wüsste es so gerne. Bei den Unterlagen, die ich inzwischen habe, befindet sich auch der für den Reichsführer-SS Himmler bestimmte Fragebogen, den man in den Lebensborn-Heimen über die Mütter ohne deren Wissen ausfüllte. In dem meine Mutter betreffenden Fragebogen steht, dass sie angibt, eine gute Nationalsozialistin zu sein. Und dazu hat sie sich auch bis zu ihrem Tode bekannt. Mich hat sie auch im nationalsozialistischem Stil mit Strenge und durch Blicke erzogen, heute sage ich, dressiert. Ich war ihre Marionette und funktionierte wie am Schnürchen. Ich war total angepasst, habe nie etwas in Frage gestellt und auch nichts getan, wovon ich nur vermutete, dass es meiner Mutter nicht gefallen könnte. Als ich etwa 6 oder 7 Jahre alt war, beschwerte sich eine Nachbarin über mich. Meine Mutter kam wie eine Furie angeschossen und ohne mich zu fragen, ob die Anschuldigung der Wahrheit entsprach, zerrte sie mich ins Zimmer und verdrosch mich mit einem Teppichklopfer. Ich schrie entsetzlich. Als ich mich am nächsten Tag für die Schule anzog, versuchte ich mein Kleid über die Striemen an den Oberschenkeln zu ziehen. Meine Mutter sah es und sagte: “Das kannst du nicht verstecken. Da können alle Leute sehen, dass du gestern böse warst!“ Das war für mich schlimmer als die Schläge vom Vortag. In meiner kindlichen Phantasie glaubte ich, dass alle Leute nun sahen, dass ich gestern böse war, und ich wollte doch lieb sein! Am nächsten Tag erfuhr meine Mutter, dass ich das, wofür ich die Schläge bekommen hatte, gar nicht getan hatte. Aber die Worte „Entschuldigung, ich wollte Dir nicht weh tun, es tut mir Leid ...“ gab es bis zu ihrem Tod nicht in ihrem Wortschatz. Ein anderes Beispiel ihrer Dressur: Wenn ich im Hof spielte, musste ich immer die zwei Fenster unseres Zimmers, die zum Hof führten, im Auge haben. Stand meine Mutter am Fenster, musste ich auf mich und dann auf sie zeigen. Nickte sie, musste ich nach oben kommen. Ihr Kopfschütteln bedeutete, dass ich noch weiter spielen konnte. Einmal, ich wollte gern weiterspielen, dachte ich: „Ich muss sie ja nicht gesehen haben“, und versteckte mich zwischen den Mülltonnen. Plötzlich stand sie vor mir und mit den Worten „Du hast mich genau gesehen!“ bekam ich eine kräftige Ohrfeige und musste mit hoch ins Zimmer. Anschließend hatte ich die Fenster natürlich immer im Auge. Meine Mutter schimpfte sehr viel und schrie ihren Frust lauthals heraus. Wenn ich dann betroffen oder traurig da stand, kam ihr stereotyper Satz: „Mach ein anderes Gesicht!“ Ich durfte keine negativen Gefühle zeigen, musste stets lächeln. Viele ehemalige „Lebensborn-Kinder“ haben sich zu dem Verein „Lebensspuren e. V.“ zusammengeschlossen. Manche von uns sind der Meinung, dass unsere Mütter austauschbar sind. Fast alle erzählen, dass sie von ihnen angelogen wurden oder dass sie geschwiegen haben. Viele berichten auch von lieblosen Müttern. In einem Lebensborn-Heim geboren zu sein, ist für mich manchmal eine große Last. Sie – meine Mutter - hat das schreckliche Regime gut geheißen und mit getragen; denn nicht jede junge Frau, die ein nichteheliches Kind erwartete, konnte in einem gut ausgestatteten Lebensborn-Heim entbinden. Als ich in Yad Vashem in Jerusalem war, brach die Last der Nazi-Vergangenheit meiner Mutter wieder mit voller Wucht über mich herein. Ebenso erging es mir in Berlin beim Besuch der Ausstellung „Topographie des Terrors“. Immer habe ich mir von meiner Mutter den Satz gewünscht: „Wie konnte ich nur!“ Inzwischen ist sie verstorben; ich habe mir stets eine andere Mutter gewünscht. Als Kind habe ich funktioniert und hatte auch viel Verantwortung für meine beiden jüngeren Schwestern zu tragen. Dadurch habe ich Zuneigung und Achtung von den Erwachsenen bekommen. Bei Gleichaltrigen war es nicht so. Ich erinnere mich noch an den Satz eines Kindes: „Mit dir kann man ja nicht richtig spielen!“ Ja, es stimmte, ich hatte stets eine meiner Schwestern dabei und daher kaum Freundinnen oder Freunde. Als Jugendliche habe ich viel, wenn ich allein war, geweint. Später sind die Tränen nach innen geflossen. Ich habe psychosomatisch reagiert, hatte mit 19 Jahren mein erstes Magengeschwür, in den folgenden Jahren weitere. Dazu kamen Magenschleimhautentzündungen, Gallensteine und damit verbunden Gallenkoliken. Um meine Verletzungen aufzuarbeiten, habe ich 1998 mit einer Therapie begonnen. Bei Beginn der Therapie habe ich auch gleich mit einer Gürtelrose reagiert. Im Jahr 2000 bin ich mit meinem Mann nach Pernitz gefahren. Ich hatte ein Foto von einem Gebäude auf dessen Rückseite stand: „Hier erblickt Astrid am 17. Febr. das Licht der Welt.“ Dieses Haus haben wir gesucht und danach gefragt. Plötzlich kam die erlösende Auskunft: „Ja, das steht in Feichtenbach und sieht noch fast so aus.“ Wir fuhren in den Ortsteil Feichtenbach und fanden das Haus. Es sah inzwischen etwas anders aus, aber es war zu erkennen. Wir gingen hinein, ich legte das Foto auf die Theke der Rezeption und fragte, ob das Haus in dem wir stehen, einmal so ausgesehen habe. Die Dame fragte mich: „Sind sie hier geboren?“ Ich weinte und war froh, dass mein Mann bei mir war. Wir durften durch das Haus gehen und uns alles ansehen. Anschließend waren wir im Rathaus von Pernitz und hatten das Glück, mit dem Archivar ins Archiv gehen zu können. Dort fand er tatsächlich noch Unterlagen über mich und meine Mutter, von denen ich dann auch Kopien bekam. Ich war wirklich in Pernitz geboren! Am nächsten Tag sind wir noch einmal zu dem Haus, das in einem wunderschönen Tal liegt, gefahren. Da konnte ich es genießen: Hier wurde ich geboren, hier war ich die ersten 6 Monate meines Lebens. Es war ein wunderschönes Gefühl! Durch die vielen Verletzungen sind natürlich Narben entstanden, die ab und zu auch wieder aufgehen. Im Jahr 2010 z. B., als ich vom ITS in Bad Arolsen Kopien von Unterlagen über mich bekam, traf mich wieder der Schlag. Eine Information war für mich völlig neu: Aus dem Kinderkrankenhaus in Lodz sind 1944-1945 Kinder in drei verschiedenen Transporten nach drei verschiedenen Orten in Richtung Westen deportiert worden. Das Krankenhaus wurde aufgelöst und man weiß nicht, was aus den Kindern geworden ist. Alle Unterlagen sind verschwunden. Es gibt nur noch eine unvollständige Namensliste der Kinder, in der auch mein Name steht. Mit 67 Jahren hat mich das wieder „umgehauen“. Warum war ich in Lodz im Krankenhaus, wie bin ich zu meiner Großmutter nach Zahna gekommen? Immer wieder stellen sich meine Lebensfragen: Wo war ich als Säugling und Kleinkind? Wer waren meine Bezugspersonen in dieser Zeit? Eigentlich ist es kein Wunder, dass ich solche Verlustängste habe und große Angst vor der Dunkelheit, vor Tieren, allein im Wald zu sein usw. Trotzdem bin ich ein glücklicher Mensch geworden. Seit 40 Jahren bin ich glücklich verheiratet und wir sind stolz auf unsere Tochter. Es sind mir in meinem Leben ganz viele Menschen begegnet, die mich ein Stück begleitet und getragen haben, die mir Gutes gesagt und getan haben. Manchmal war es nur ein Satz, aber davon zehre ich noch heute. Mir sind viele „Engel“ begegnet und ich hatte in mir die Möglichkeit, das zu erkennen und anzunehmen. Dafür bin ich sehr dankbar. 2013 kam wieder ein „Engel“ zu mir. Es war mein Cousin. Er schenkte mir das Kinderfoto meines Vaters im Originalrahmen, das er von der Schwester meines Vaters zur Weitergabe an mich erhalten hatte. |