Vorwort
 
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Jean François Maréchal

"Faschismus wurde zu einem für „Allzweck-Begriff“, weil man aus faschistischen Regimen Merkmale eliminieren kann und es trotzdem noch als faschistisch erkennbar sein wird.“ schrieb Umberto Eco 1995. „Nehmen Sie den Imperialismus vom Faschismus und Sie haben noch Franco und Salazar. Nehmen Sie den Kolonialismus weg und sie haben noch den Balkanfaschismus der Ustascha. Fügen Sie dem italienischen Faschismus einen radikalen Anitkapitalismus hinzu, (der Mussolini nie fasziniert hat) und Sie haben Ezra Pound. Addieren Sie einen Kult der keltischen Mythologie und die Gral-Mystik (völlig fremd dem offiziellen Faschismus) und Sie haben einen der angesehensten faschistischen Gurus, Julius Evola."

Beim Nationalsozialismus steht der Rassismus von vorn herein ausdrücklich im Programm : laut den Nazis soll die germanische Rasse die Welt beherrschen und innerhalb der germanischen Rasse stellt die nordische Rasse – blondhaarige blauäugige Menschen – die Elite dar. Als Auslöser des Lebensborns gilt wahrscheinlich ein Bericht, der die Anzahl Schwangerschaftsunterbrechungen in Deutschland auf etwa 700.000 jährlich schätzt : nur die Hälfte davon wäre eine vollständige Armee. Nun muss diese Armee aus Elitemenschen aus der oberen Rasse bestehen. Natalismus dient dem Hegemonismus.

Offiziell wird also die Bekämpfung des Abortus angekündigt ; lasst uns die doppelte Funktion des Nazi-Diskurses nicht aus dem Auge verlieren : einerseits Leute zusammenbringen, indem der Feind aufgebaut wird. Der Feind, das ist der Jude, der Hühnerdieb, der Nigger, der Schwule, usw… all diese Kategorien, denen ein unterschiedich farbiges Dreieck zugeordnet wird in den Todeslagern. Für die Katholiken sind die Juden am Tod Christi verantwortlich ; « Juden sind unser Unglück » schrieb seinerseits Luther und „Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücken führen, einen Stein um den Hals hängen, ihn hinabstoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams“ Luther (Tischreden, Nr. 1795). Antisemitismus, Bekämpfung des Abortus und der Homosexualität : die Perspektive einer moralischen Ordnung, die Wählerstimmen anlockt. Nicht zu sprechen von der versprochenen Ewigkeit – doch mit 1000 Jahren Verpachtung – für diejenigen, die das Jüngste Gericht überleben werden, also diese psychologische Vorbereitung auf die Ausrottung des Anderen, auf den Genozid.

Das berühmte Plakat « Millionen stehen hinter mir » ist richtig aber unvollständig. Ohne ökonomische, finanzielle Unterstützung wären die Nazis nicht an die Macht gekommen. Aber alles auf ökonomische Faktoren zu reduzieren reicht nicht : die NSDAP fand auch eine Legitimität bei bestimten Volksmassen (Wenn die SA im Ruhrgebiet die Banken überfallen und der Bevölkerung das Geld verteilt, schickt Hitler die SS gegen die SA) aber auch bei bestimmten Eliten : schon am Ende des ersten Weltkrieges hatten sich die deutschen Juristen einstimmig gegen die Weimarer Verfassung geäußert, weil sie ihnen zu liberal war. Ein ganz Menge Wissenschaftler, darunter Nobelpreisträger, werden Hitler unterstützen. Und, wie Dr Cymes uns in « Hippocrates in der Hölle » daran erinnert, antworteten 70% der Ärzte positiv auf den Aufruf des 3. Reiches, sich an den « rassenkundlichen Forschungen » zu beteiligen.

Ich nehme mir die Freiheit, einige meiner Erwägungen, zwar sehr abduktiv, preiszugeben :

- Wie kann man in einer einzigen Kategorie das Programm Lebensborn, den Status der Frau in der DDR, die sogenannte Politik des Einzelkindes in China und die Unterdrückung des Schwangerschaftsabbruches in Rumänien zur Zeit Ceaucescus nebeneinander stellen ? Muss der Inhalt des Totalitarismusbegriffs angesichts dessen nicht wieder in Frage gestellt werden ?

- Was die Lebensbornkinder erlitten haben, erweckt unterschiedliche Mitgefühle ob auf deutscher oder auf belgischer bzw französischer Seite. Wenn die Empathie, diese neueste Version des Mitleids, so sehr vom kulturellen Kontext abhängig ist, muss sie dann nicht als allgemeingültige Methode wieder in Frage gestellt, also relativiert werden ? In Belgien wurde der Antifaschismus zu oft mit Deutschfeindlichkeit amalgamiert : wem nutzt das ?

- Die Opfer des Nationalsozialismus waren äußerst zahlreich, jede Menschgruppe vervollständigt das Bild, das wir uns von diesem Regime machen : ist es eben nicht nötig, alle Opferkategorien zu erwähnen, ohne sie quantitativ zu diskriminieren ?

Um ins Konkrete zurückzukommen : heute wollen wir zuerst den Direktor von Wégimont, Herrn Mestrée, hören, der uns eine kurze Geschichte der Anstalt darlegen wird. Darauf folgen drei Referenten : Frau Astrid Eggers, Lebensbornkind, Prof. Dr. Georg Lilienthal, Leiter der Gedenkstätte Hadamar und Herr Boris Thiolay, Redakteur der französischen Zeitschrift « L’Express », der über die Lebensbornkinder ermittelt hat. Drei Redner, also drei Sichtweisen : die Zeitzeugin, die das Problem erlebt hat und dessen Folgen noch immer erlebt, der Wissenschaftler, der vergleicht, analysiert und die Mechanik des kriminellen Unternehmens zerlegt, und dazwischen der investigative Journalist, dessen Ermittlungen die Verbindung erlaubt. Zum Schluss werden wir Zeit für die Fragen aus dem Publikum haben, mit Hilfe der nicht unbedingt qualifizierten und ehrenamtlichen Dolmetscher.

Ich möchte meinen Dank aussprechen all denjenigen, die uns unterstützen : die Stadt Aachen, die Volkshochschule Aachen, « Demokratie erleben », die Kulturabteilung der Provinz Lüttich, die Territoires de la Mémoires (buchstäblich Gebiete der Erinnerung) sowie das Provinzialgebiet Wegimont und dessen Personal, die uns sehr freundlich empfangen haben, was nicht selbstverständlich war, da das Image der Anstalt eher eines der Lebensfreude ist. Zum Schluss : es geht hier nicht um die erste Zusammenarbeit zwischen den Territoires, der VVN Aachen und dem Spaer Freidenkerkreis « die Vernunft » : hoffentlich auch nicht die letzte.